Mittwoch, 25. Oktober 2023

Update zu den Tyne Turrets

Das Kuriosum Tyne Turrets, von dem ich geglaubt hatte, es in einem kurzen Beitrag abhandeln zu können, hat sich mittlerweile doch als komplexer erwiesen, als ich zunächst erwartet hatte.

Ausgangspunkt für meine weitere Beschäftigung damit waren widersprüchliche Aussagen über die Bewaffnung: Manche Quellen, u.a. Wikipedia, sprechen von einem Geschütz pro Batterie, andere hingegen von je einem kompletten Illustrious-Geschützturm pro Batterie. Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, besorgte ich mir die Pläne beider Batterien.

Natürlich interessierte mich auch, was aus beiden Batterien geworden ist und was es heute noch zu sehen gibt.

Hier die Ergebnisse meiner Recherchen.

1. Historie

Der Tyne hatte im 1. Weltkrieg eine besondere strategische Bedeutung, einerseits wegen des ansässigen Schiffsbaus – viele Kriegsschiffe wurden dort konstruiert und repariert -, andererseits wegen seiner Bedeutung im Export von kriegswichtiger Kohle.

Bereits 1899 hatte man in Tynemouth und South Shields mit dem Bau moderner Verteidigungsanlagen begonnen: 2 Batterien für 2 x 6-Zoll- und 1 x 9.2-Zoll-Geschütze wurden 1903 fertiggestellt (Tynemouth Castle nördlich der Tynemündung und Frenchman’s Point Battery südlich der Mündung). Zusätzlichen Schutz sollte die Spanish Battery unterhalb von Tynemouth Castle bieten, die mit 2 x 6-Zoll- und 2 x 12-Pfünder-Schnellfeuergeschützen vor allem Torpedoschnellboote bekämpfen sollte. Cliffords Fort, eine Batterie aus dem 17. Jahrhundert, wurde zu einem Seeminendepot und dem Hauptquartier der Tyne Electrical Engineers, die für die Suchscheinwerfer zuständig waren.

Zu Beginn des ersten Weltkriegs waren diese Einrichtungen unverändert im Einsatz.

Am 17. Dezember 1914 griff die Kaiserliche Flotte in einem Überraschungsangriff die Städte Scarborough, Whitby und Hartlepool an der britischen Nordostküste an. Es entstand großer Schaden, wohingegen die Kaiserliche Flotte nur marginal beschädigt wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Die Schiffe befanden sich außer Reichweite der meisten Küstengeschütze; wollte man möglichen zukünftigen Angriffen dieser Art wirkungsvoller begegnen, musste die Verteidigung der britischen Nordostküste schnell und deutlich verbessert werden.

Die schnellste Lösung bestand in einer „Standing Patrol“, also der ständigen Präsenz britischer Kriegsschiffe vor der britischen Nordostküste. Ihre Operationsbasis war das schottische Rosyth. Eins dieser Schiffe war übrigens die HMS Illustrious, die ab August 1914 als Guardship im Loch Ewe eingesetzt worden war und ab November des gleichen Jahres den Tyne schützen sollte.


Im weiteren Verlauf des Krieges zeigte sich allerdings, dass diese Schiffe zu dringend anderweitig gebraucht wurden, wodurch das Prinzip der Standing Patrols nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Im Oktober 1916 begann man mit der Suche nach einer Alternative, die im Februar 1917 gefunden und beschlossen wurde. Der Plan bestand darin, die beiden 12-Zoll-Geschütztürme der HMS Illustrious, die ab dem 26. November 1915 entwaffnet worden war und seit 1916 als Munitionslagerschiff diente, an Land zur Küstenverteidigung zu installieren. Hier ein Geschützturm der Illustrious von innen:

Quelle: Wikipedia

Jeweils ein Standort nördlich und südlich des Tyne wurde ausgewählt, und die Bauarbeiten begannen umgehend:

  • Die nördliche Batterie („Roberts Battery“) wurde ca. 400 Meter östlich des heutigen Hartley in der Nähe von Crag Point errichtet.
  • Die südliche Batterie („Kitchener Battery“) entstand 600 Meter westlich vom Souter Lighthouse, Marsden.

Da die Geschütztürme mit jeweils 184 Tonnen Gewicht erheblich schwerer waren als fast alles, was bis dato in Küstenbatterien installiert worden war, mussten die Batterien nach völlig neuen Gesichtspunkten geplant und gebaut werden. (Anmerkung: Die extrem schwere Bewaffnung der Tyne Turrets wurde damals nur vom Admiralty Pier Turret im Hafen von Dover übertroffen, einem geschlossenen Panzerturm mit  zwei 16-Zoll 80-Tonnen-Geschützen, der 1882 auf der westlichen Mole des Hafens von Dover errichtet worden war.)

Entsprechend groß dimensioniert war die unterirdische Batterieanlage beider Geschütztürme: Auf einer Fläche von ca. 48m x 56m waren Lagerräume für Material und Munition, Maschinenräume, Schutzräume für die Besatzung und vor allem ein entsprechend dimensionierter Unterbau für den Geschützturm selbst vorgesehen; alleine für diesen Unterbau wurde eine 12 Meter tiefe Grube von 36,5 x 27,5 Metern ausgehoben. Aus den Plänen der beiden Batterien konnte ich eine Wanddicke von ca. 2,30 Metern Stahlbeton für den Geschützbrunnen ermitteln.

Sowohl der finanzielle als auch der Arbeitsaufwand für die Batterien war gigantisch, gerade zu Kriegszeiten, wo qualifizierte Arbeitskräfte sowieso rar waren. So verwundert es nicht, dass beide Batterien bis Kriegsende nicht fertiggestellt waren. Dazu mehr in den Einzelbetrachtungen.

Noch ein paar Worte zur Koordination und Lenkung der Tyne Turrets: Um Ihren Zweck, die Verteidigung der Tyne-Mündung, zu erfüllen, mussten die Aktivitäten beider Batterien natürlich exakt koordiniert sein. Idealerweise sollte eine koordinierende Instanz möglichst genau mittig zwischen beiden Batterien eingerichtet werden. Der bereits beschriebene Feuerleitstand erfüllte diese Bedingung ideal. Er lag exakt mittig in jeweils ca. 6,75 Kilometern Entfernung zwischen beiden Batterien, hatte ungehinderte Sicht auf das Vorfeld der Tyne-Mündung und auch Sichtverbindung zu beiden Batterien, was zu Zeiten, wo Informationen immer noch hauptsächlich auf optischem Weg (Flaggen, Lichtsignale) übermittelt wurden, ein großer Vorteil war.

Bei dem Geschütz auf dem Dach des Feuerleitstands dürfte es sich um eine Flugabwehrkanone gehandelt haben, wohl als Reaktion auf deutsche Zeppelin-Angriffe, die mit der Bombardierung der Region um Norfolk am 19. Januar 1915 durch die Luftschiffe L3, L4 und L6 begonnen hatten.

(© Open Street Maps Mitwirkende)

Nun zu den beiden Batterien.

2. Die Kitchener Battery in Marsden

Die Kitchener Battery befand sich auf einer Anhöhe mit einem uneingeschränkten Schussfeld über die Tyne-Mündung im Norden bis zum Wear im Süden. Das einzige Hindernis für dieses weite Feuerfeld war der Souter Leuchtturm unmittelbar östlich des Batteriestandorts. In der Praxis stellten aber weder dieser Leuchtturm noch der von St. Marys im Norden eine Einschränkung für das Feuer dar; da die beiden Tyne Turrets zusammenarbeiteten, konnte ein koordiniertes Feuermuster auf jeden gewünschten Punkt des Schussfelds gerichtet werden.

Die Batterie bestand aus einem Geschützturm der HMS Illustrious mit zwei 12-Zoll-Geschützen sowie aus umfangreichen unterirdischen Anlagen wie oben beschrieben. Oberirdisch befanden sich Gebäude für die Signalübermittlung und Steuerung der Batterie.

Nachfolgend zwei Ausschnitte aus den mir vorliegenden Plänen (Quelle: National Archives):

1921 war die Batterie fertiggestellt; am 6. September 1921 feuerte sie 12 Probeschüsse ab.

Der Geschützturm mitsamt Geschützen wurde, da mittlerweile recht veraltet (siehe auch Kommentar bei der Roberts Battery), zwischen 1924 und April 1926 entfernt und verschrottet, und die unterirdischen Anlagen wurden zunächst sich selbst überlassen, bis sie im zweiten Weltkrieg renoviert und als Munitionslager genutzt wurden.

Nach dem Krieg verfiel das Gelände vollends und wurde nach und nach von den angrenzenden Steinbrüchen eingenommen. In den 1950er Jahren wurden die massiven unterirdischen Anlagen gesprengt und beseitigt. Einziges Überbleibsel heute ist ein Paar Torpfosten bei 54°58'05.5"N 1°22'22.0"W.

Die folgende Karte zeigt die ehemalige Position der Batterie:

Quelle: Google Maps

 3. Die Roberts Battery in Hartley

Die Roberts Battery befand sich in der Nähe von Seaton Sluice, Northumberland. Entgegen meiner Behauptung im letzten Beitrag, nur die Kitchener Battery sei fertiggestellt worden, wurde auch  die Roberts Battery 1921 fertiggestellt.

Der Aufbau war analog der Kitchener Battery (Quelle: National Archives):


Die folgende Abbildung gibt eine Orientierung über die wichtigsten Funktionselemente. Farbcode: grau = Stahlbeton, rot = Ziegelmauerwerk, blau = Sockel des Geschützturms


Oberirdisch waren von dieser riesigen Anlage nur der Geschützturm und ein Blockhaus zu sehen; der Zugang erfolgte über zwei Lichthöfe. Vergleichbare Lichthöfe gibt es auch in anderen Batterien, hier z.B. der Tynemouth Castle Battery:


Die Batterie war außerdem von einer Nahverteidigungseinrichtung umgeben, vermutlich einer Mauer mit Schießscharten, einem vorgelagerten Graben und zwei kaponnièreartigen Ausstülpungen. Es ist mir bisher nicht gelungen, Details dazu zu finden.

Etwas abseits gelegen befand sich der Batteriekommandoposten mit einem Barr & Stroud Schnittbildentfernungsmesser in einem ca. 10 Meter hohen achteckigen Turm. Zu  diesem Ensemble gehörten auch Offiziers- und Mannschaftsunterkünfte, ein Kochhaus, ein Badehaus, ein Kesselhaus sowie ein Wasserturm und eine verteidigungsfähige Latrine, letztere sicherlich eine Besonderheit.

Der Geschützturm hatte ein beinahe völlig freies Schussfeld auf das Meer hinaus, außer in Richtung der Insel St. Mary's im Südosten. In der Praxis wäre dies aber kein Problem gewesen, da die Schüsse in der Regel so hoch gelegen hätten, dass sie über den Leuchtturm auf der Insel hinweggegangen wären. Jeder tote Winkel unmittelbar hinter dem Leuchtturm wäre von der Kitchener Battery abgedeckt worden.

Die Roberts Battery feuerte am 5. September 1922, einen Tag vor der Kitchener Battery, 12 Probeschüsse ab. Es wird berichtet, dass durch diese Schüsse Dachschindeln der umliegenden Häuser fortgerissen wurden. Die Vehemenz eines Abschusses der 12-Zoll-Geschütze zeigt das folgende Bild der HMS Illustrious während einer Schießübung 1907:

1924, also bereits 2 Jahre nach den Probeschüssen, wurde empfohlen, den Geschützturm zu entfernen, was bis ins Jahr 1926 dauerte. Die 12-Zoll-Geschütze waren 1895 in Dienst gestellt worden; bereits während des Einsatzes auf der Illustrious war es aufgrund konstruktiver Mängel zu vorzeitigen Detonationen gekommen. Die Geschütze waren also 1924, knapp 30 Jahre nach ihrer Indienststellung, hoffnungslos veraltet, was ein Grund für die Entscheidung gewesen sein mag, sie zu demontieren.

Im zweiten Weltkrieg wurde auf dem Batteriegelände eine Chain Home Low Radar Station errichtet. Nach dem Krieg stand die Batterie leer; die unterirdischen Einrichtungen waren noch in den 1960er Jahren zugänglich, wurden dann aber von der Gemeinde mit Schutt überdeckt.

Auf Luftbildern sind die Umrisse der Batterie heute recht gut erkennbar; ich habe das auf den folgenden Aufnahmen von Google Maps dargestellt.

Das erste Bild zeigt das Batteriegelände, so wie man es auf Google Maps sieht:


Auf dem nächsten Bild habe ich die Position der unterirdischen Einrichtungen hellblau markiert:


Hier schließlich das Gesamtensemble einschließlich markierter Nahverteidigung:

Das Areal ist in Privatbesitz und kann nicht betreten werden.

Mehr zu sehen ist vom Batteriekommandoposten, ca. 250 Meter südlich der Batterie gelegen:


Auf dem nächsten Bild habe ich das Areal markiert:


Legende:

  1. = Verteidigungsfähige Latrine
  2. = Wasserturm
  3. = Turm mit Schnittbildentfernungsmesser

Die durch eine blaue Linie gekennzeichnete Umfriedung besteht in Teilen aus einer mit Schießscharten bewehrten Mauer.

Das Ensemble mit dem bezeichnenden Namen „Fort House“ ist heute ein privates Wohnhaus und kann nicht betreten werden. Es ist denkmalgeschützt.

Auf Wikipedia findet man Fotos der wesentlichen Elemente; hier die Latrine mit Schießscharten:


Und der Wasserturm:


Was die Roberts Battery zu etwas ganz Besonderem macht, ist der Umstand, dass die unterirdischen Einrichtungen noch komplett erhalten sind. Findige Köpfe haben sogar einen Weg hinein gefunden; er ist allerdings extrem fragil und dadurch sehr gefährlich. Ich weiß zwar, wo er sich befindet, werde das aus den genannten Gründen hier aber nicht veröffentlichen.

Im britischen Internetforum „Derelict Places“ gibt es eindrucksvolle Fotos des Inneren. Die Räume sind hervorragend erhalten, wenngleich auch über und über mit Graffitis verschmiert. Hier ein Plan, welche Räume noch zugänglich sind:


(grün = zugänglich / rot = unzugänglich)

Ich vermute, dass auch das Lager für die Treibladungen intakt ist. Der einzige Zugang würde aber am Geschützbrunnen vorbei führen, und der ist komplett verschüttet.

Die Roberts Battery ist definitiv eine einzigartige militärische Einrichtung, der eigentlich ein besseres Schicksal beschieden sein sollte als unter Müll vergraben und mit Graffitis verunstaltet zu sein. Es wäre wünschenswert, wenn die zuständige Gemeinde sie wieder freilegen und für Besucher herrichten würde; der Aufwand kann nicht allzu groß sein. Vor allem sollte schnellstmöglich der heutige Zugang gesichert werden, bevor jemand zu Schaden kommt.

 Hier geht es zum ursprünglichen Bericht über die Tyne Turrets.