Das Kuriosum Tyne Turrets, von dem ich geglaubt hatte, es in einem kurzen Beitrag abhandeln zu können, hat sich mittlerweile doch als komplexer erwiesen, als ich zunächst erwartet hatte.
Ausgangspunkt
für meine weitere Beschäftigung damit waren widersprüchliche Aussagen über die
Bewaffnung: Manche Quellen, u.a. Wikipedia, sprechen von einem Geschütz pro Batterie,
andere hingegen von je einem kompletten Illustrious-Geschützturm pro Batterie.
Um dieser Sache auf den Grund zu gehen, besorgte ich mir die Pläne beider
Batterien.
Natürlich
interessierte mich auch, was aus beiden Batterien geworden ist und was es heute
noch zu sehen gibt.
Hier die Ergebnisse meiner Recherchen.
1. Historie
Der Tyne
hatte im 1. Weltkrieg eine besondere strategische Bedeutung, einerseits wegen
des ansässigen Schiffsbaus – viele Kriegsschiffe wurden dort konstruiert und
repariert -, andererseits wegen seiner Bedeutung im Export von kriegswichtiger Kohle.
Bereits
1899 hatte man in Tynemouth und South Shields mit dem Bau moderner
Verteidigungsanlagen begonnen: 2 Batterien für 2 x 6-Zoll- und 1 x
9.2-Zoll-Geschütze wurden 1903 fertiggestellt (Tynemouth Castle nördlich der
Tynemündung und Frenchman’s Point Battery südlich der Mündung). Zusätzlichen
Schutz sollte die Spanish Battery unterhalb von Tynemouth Castle bieten, die
mit 2 x 6-Zoll- und 2 x 12-Pfünder-Schnellfeuergeschützen vor allem
Torpedoschnellboote bekämpfen sollte. Cliffords Fort, eine Batterie aus dem 17.
Jahrhundert, wurde zu einem Seeminendepot und dem Hauptquartier der Tyne
Electrical Engineers, die für die Suchscheinwerfer zuständig waren.
Zu Beginn
des ersten Weltkriegs waren diese Einrichtungen unverändert im Einsatz.
Am 17.
Dezember 1914 griff die Kaiserliche Flotte in einem Überraschungsangriff die
Städte Scarborough, Whitby und Hartlepool an der britischen Nordostküste an. Es
entstand großer Schaden, wohingegen die Kaiserliche Flotte nur marginal
beschädigt wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Die Schiffe befanden
sich außer Reichweite der meisten Küstengeschütze; wollte man möglichen
zukünftigen Angriffen dieser Art wirkungsvoller begegnen, musste die
Verteidigung der britischen Nordostküste schnell und deutlich verbessert
werden.
Die
schnellste Lösung bestand in einer „Standing Patrol“, also der ständigen
Präsenz britischer Kriegsschiffe vor der britischen Nordostküste. Ihre
Operationsbasis war das schottische Rosyth. Eins dieser Schiffe war übrigens
die HMS Illustrious, die ab August 1914 als Guardship im Loch Ewe eingesetzt worden
war und ab November des gleichen Jahres den Tyne schützen sollte.
Im weiteren Verlauf des Krieges zeigte sich allerdings, dass diese Schiffe zu dringend anderweitig gebraucht wurden, wodurch das Prinzip der Standing Patrols nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Im Oktober 1916 begann man mit der Suche nach einer Alternative, die im Februar 1917 gefunden und beschlossen wurde. Der Plan bestand darin, die beiden 12-Zoll-Geschütztürme der HMS Illustrious, die ab dem 26. November 1915 entwaffnet worden war und seit 1916 als Munitionslagerschiff diente, an Land zur Küstenverteidigung zu installieren. Hier ein Geschützturm der Illustrious von innen:
Jeweils ein Standort nördlich und südlich des Tyne wurde ausgewählt, und die Bauarbeiten begannen umgehend:
- Die nördliche Batterie („Roberts Battery“) wurde ca. 400 Meter östlich des heutigen Hartley in der Nähe von Crag Point errichtet.
- Die südliche Batterie („Kitchener Battery“) entstand 600 Meter westlich vom Souter Lighthouse, Marsden.
Da die
Geschütztürme mit jeweils 184 Tonnen Gewicht erheblich schwerer waren als fast alles,
was bis dato in Küstenbatterien installiert worden war, mussten die Batterien
nach völlig neuen Gesichtspunkten geplant und gebaut werden. (Anmerkung: Die extrem schwere
Bewaffnung der Tyne Turrets wurde damals nur vom Admiralty Pier Turret im Hafen
von Dover übertroffen, einem geschlossenen Panzerturm mit zwei 16-Zoll 80-Tonnen-Geschützen, der 1882
auf der westlichen Mole des Hafens von Dover errichtet worden war.)
Entsprechend groß dimensioniert war die unterirdische Batterieanlage
beider Geschütztürme: Auf einer Fläche von ca. 48m x 56m waren Lagerräume für
Material und Munition, Maschinenräume, Schutzräume für die Besatzung und vor
allem ein entsprechend dimensionierter Unterbau für den Geschützturm selbst
vorgesehen; alleine für diesen Unterbau wurde eine 12 Meter tiefe Grube von
36,5 x 27,5 Metern ausgehoben. Aus den Plänen der beiden Batterien konnte ich
eine Wanddicke von ca. 2,30 Metern Stahlbeton für den Geschützbrunnen
ermitteln.
Sowohl der
finanzielle als auch der Arbeitsaufwand für die Batterien war gigantisch,
gerade zu Kriegszeiten, wo qualifizierte Arbeitskräfte sowieso rar waren. So
verwundert es nicht, dass beide Batterien bis Kriegsende nicht fertiggestellt
waren. Dazu mehr in den Einzelbetrachtungen.
Noch ein
paar Worte zur Koordination und Lenkung der Tyne Turrets: Um Ihren Zweck, die
Verteidigung der Tyne-Mündung, zu erfüllen, mussten die Aktivitäten beider
Batterien natürlich exakt koordiniert sein. Idealerweise sollte eine
koordinierende Instanz möglichst genau mittig zwischen beiden Batterien
eingerichtet werden. Der bereits beschriebene Feuerleitstand erfüllte diese
Bedingung ideal. Er lag exakt mittig in jeweils ca. 6,75 Kilometern Entfernung
zwischen beiden Batterien, hatte ungehinderte Sicht auf das Vorfeld der
Tyne-Mündung und auch Sichtverbindung zu beiden Batterien, was zu Zeiten, wo Informationen
immer noch hauptsächlich auf optischem Weg (Flaggen, Lichtsignale) übermittelt
wurden, ein großer Vorteil war.
Bei dem
Geschütz auf dem Dach des Feuerleitstands dürfte es sich um eine
Flugabwehrkanone gehandelt haben, wohl als Reaktion auf deutsche
Zeppelin-Angriffe, die mit der Bombardierung der Region um Norfolk am 19.
Januar 1915 durch die Luftschiffe L3, L4 und L6 begonnen hatten.
Nun zu den
beiden Batterien.
2. Die Kitchener Battery in Marsden
Die
Kitchener Battery befand sich auf einer Anhöhe mit einem uneingeschränkten
Schussfeld über die Tyne-Mündung im Norden bis zum Wear im Süden. Das einzige
Hindernis für dieses weite Feuerfeld war der Souter Leuchtturm unmittelbar
östlich des Batteriestandorts. In der Praxis stellten aber weder dieser
Leuchtturm noch der von St. Marys im Norden eine Einschränkung für das Feuer
dar; da die beiden Tyne Turrets zusammenarbeiteten, konnte ein koordiniertes
Feuermuster auf jeden gewünschten Punkt des Schussfelds gerichtet werden.
Die Batterie
bestand aus einem Geschützturm der HMS Illustrious mit zwei 12-Zoll-Geschützen
sowie aus umfangreichen unterirdischen Anlagen wie oben beschrieben.
Oberirdisch befanden sich Gebäude für die Signalübermittlung und Steuerung der
Batterie.
Nachfolgend zwei Ausschnitte aus den mir vorliegenden Plänen (Quelle: National Archives):
1921 war die Batterie fertiggestellt; am 6. September
1921 feuerte sie 12 Probeschüsse ab.
Der Geschützturm mitsamt Geschützen wurde, da mittlerweile recht veraltet (siehe auch Kommentar bei der Roberts Battery), zwischen 1924 und April 1926 entfernt und verschrottet, und die unterirdischen Anlagen wurden zunächst sich selbst überlassen, bis sie im zweiten Weltkrieg renoviert und als Munitionslager genutzt wurden.
Nach dem
Krieg verfiel das Gelände vollends und wurde nach und nach von den angrenzenden
Steinbrüchen eingenommen. In den 1950er Jahren wurden die massiven unterirdischen
Anlagen gesprengt und beseitigt. Einziges Überbleibsel heute ist ein Paar
Torpfosten bei 54°58'05.5"N 1°22'22.0"W.
Die
folgende Karte zeigt die ehemalige Position der Batterie:
Die Roberts Battery befand sich in der Nähe
von Seaton Sluice, Northumberland. Entgegen meiner Behauptung im letzten
Beitrag, nur die Kitchener Battery sei fertiggestellt worden, wurde auch die Roberts Battery 1921 fertiggestellt.
Der Aufbau war analog der Kitchener Battery (Quelle: National Archives):
Die folgende Abbildung gibt eine Orientierung über die wichtigsten Funktionselemente. Farbcode: grau = Stahlbeton, rot = Ziegelmauerwerk, blau = Sockel des Geschützturms
Oberirdisch waren von dieser riesigen Anlage nur der Geschützturm und ein Blockhaus zu sehen; der Zugang erfolgte über zwei Lichthöfe. Vergleichbare Lichthöfe gibt es auch in anderen Batterien, hier z.B. der Tynemouth Castle Battery:
Die Batterie war außerdem von einer Nahverteidigungseinrichtung umgeben, vermutlich einer Mauer mit Schießscharten, einem vorgelagerten Graben und zwei kaponnièreartigen Ausstülpungen. Es ist mir bisher nicht gelungen, Details dazu zu finden.
Etwas abseits gelegen befand sich der
Batteriekommandoposten mit einem Barr & Stroud Schnittbildentfernungsmesser
in einem ca. 10 Meter hohen achteckigen Turm. Zu diesem Ensemble gehörten auch Offiziers- und
Mannschaftsunterkünfte, ein Kochhaus, ein Badehaus, ein Kesselhaus sowie ein
Wasserturm und eine verteidigungsfähige Latrine, letztere sicherlich eine
Besonderheit.
Der Geschützturm hatte ein beinahe völlig freies
Schussfeld auf das Meer hinaus, außer in Richtung der Insel St. Mary's im
Südosten. In der Praxis wäre dies aber kein Problem gewesen, da die Schüsse in
der Regel so hoch gelegen hätten, dass sie über den Leuchtturm auf der Insel hinweggegangen
wären. Jeder tote Winkel unmittelbar hinter dem Leuchtturm wäre von der Kitchener
Battery abgedeckt worden.
Die Roberts Battery feuerte am 5. September 1922, einen
Tag vor der Kitchener Battery, 12 Probeschüsse ab. Es wird berichtet, dass
durch diese Schüsse Dachschindeln der umliegenden Häuser fortgerissen wurden.
Die Vehemenz eines Abschusses der 12-Zoll-Geschütze zeigt das folgende Bild der
HMS Illustrious während einer Schießübung 1907:
Im zweiten Weltkrieg wurde auf dem Batteriegelände eine Chain
Home Low Radar Station errichtet. Nach dem Krieg stand die Batterie leer; die
unterirdischen Einrichtungen waren noch in den 1960er Jahren zugänglich, wurden
dann aber von der Gemeinde mit Schutt überdeckt.
Auf Luftbildern sind die Umrisse der Batterie heute recht
gut erkennbar; ich habe das auf den folgenden Aufnahmen von Google Maps
dargestellt.
Das erste Bild zeigt das Batteriegelände, so wie man es
auf Google Maps sieht:
Auf dem nächsten Bild habe ich die Position der unterirdischen Einrichtungen hellblau markiert:
Hier schließlich das Gesamtensemble einschließlich markierter Nahverteidigung:
Das Areal ist in Privatbesitz und kann nicht betreten
werden.
Mehr zu sehen ist vom Batteriekommandoposten, ca. 250
Meter südlich der Batterie gelegen:
Auf dem nächsten Bild habe ich das Areal markiert:
Legende:
- = Verteidigungsfähige Latrine
- = Wasserturm
- = Turm mit Schnittbildentfernungsmesser
Die durch eine blaue Linie gekennzeichnete Umfriedung besteht in Teilen aus einer mit Schießscharten bewehrten Mauer.
Das Ensemble mit dem bezeichnenden Namen „Fort House“ ist
heute ein privates Wohnhaus und kann nicht betreten werden. Es ist
denkmalgeschützt.
Auf Wikipedia findet man Fotos der wesentlichen Elemente;
hier die Latrine mit Schießscharten:
Und der Wasserturm:
Was die Roberts Battery zu etwas ganz Besonderem macht, ist der Umstand, dass die unterirdischen Einrichtungen noch komplett erhalten sind. Findige Köpfe haben sogar einen Weg hinein gefunden; er ist allerdings extrem fragil und dadurch sehr gefährlich. Ich weiß zwar, wo er sich befindet, werde das aus den genannten Gründen hier aber nicht veröffentlichen.
Im britischen Internetforum „Derelict Places“ gibt es eindrucksvolle Fotos des Inneren. Die Räume sind hervorragend erhalten, wenngleich auch über
und über mit Graffitis verschmiert. Hier ein Plan, welche Räume noch zugänglich
sind:
Ich vermute, dass auch das Lager für die Treibladungen intakt ist. Der einzige Zugang würde aber am Geschützbrunnen vorbei führen, und der ist komplett verschüttet.
Die Roberts Battery ist definitiv eine einzigartige
militärische Einrichtung, der eigentlich ein besseres Schicksal beschieden sein
sollte als unter Müll vergraben und mit Graffitis verunstaltet zu sein. Es wäre
wünschenswert, wenn die zuständige Gemeinde sie wieder freilegen und für
Besucher herrichten würde; der Aufwand kann nicht allzu groß sein. Vor allem
sollte schnellstmöglich der heutige Zugang gesichert werden, bevor jemand zu
Schaden kommt.